Montag, 21. Juli 2008

Exposé

Worte des Schweigens

Kreta ist nicht nur die Wiege Europas, sondern auch die Wiege von Leid aus Liebe.
Kreta ist der Einsatzort vom damals jungen Manfred Schwertfeger im Zweiten Weltkrieg, der nach der Fallschirmlandung seinen besten Freund Paul verliert. Noch Jahre danach schreibt er Briefe an den Gefallenen und sammelt sie in einer Mappe. Seine spätere Familie erfährt bis zum Frühjahr 2003 nichts davon.
Kreta ist das Ziel des Osterurlaubs seines Sohnes Frieder(44, Lehrer) und dessen Frau Sabine. Er träumt von Mythen, Archäologie und einer glücklicheren Ehe, bis seine Mutter ihn kurz vor dem Abflug inständig bittet, den Vater zu suchen.
Kreta ist der Absendeort einer Postkarte, die Tobias (12, Schüler von Frieder) von seinem Vater bekommt. Jener hat die Familie verlassen. Nur Tobias vermisst ihn und will ihn allein auf der Insel suchen, denn auch er fliegt mit Mutter und Bruder nach Kreta.

Das zentrale Thema dieses Romans von ca. 370 Seiten ist das Schweigen - aus Scham, aus Angst, aus Erfahrung, aus Liebe, sein Aufbau und die tief greifenden Auswirkungen.

Nach dem Prolog (liegt bei) beginnt das Kapitel „Manfred“ 1934 in dessen Kindheit. Diesem folgt der Erzähler – auch durch Briefe – in sein Bücherregal, in den Krieg, die britische Gefangenschaft in Ägypten, bis er 1948 nach Deutschland zu seinen Eltern zurückkehrt, die in Hamburg untertauchen müssen. Auseinandersetzungen mit seinem Vater und dem neuen Deutschland treiben ihn zu falschen Papieren und zur Suche nach neuen Zielen: In Bremen hofft er sie zu finden. Dort lernt er nach einer Schlägerei Hedwig kennen. Als sich seine Zukunft mit ihr hoffnungsvoll zu entwickeln scheint, endet das Kapitel.
Das Kapitel „Frieder“ beginnt 1968. Er leidet unter dem Ehrgeiz und der Herrschaft des Vaters über die Familie. Er lernt das Stillsein und Stillhalten und nimmt es mit zum Studium nach Berlin. Fleißig ist und bleibt er, auch als Sabine die Studentenwohnung schmückt. Er verschweigt ihr, dass er sich um seine humpelnde Mutter sorgt und deshalb in seine Heimatstadt Bremen zurückkehrt. Sabine lockt er mit einem Verlobungsring. Sie heiraten jedoch erst, als seine Mutter drängt. Seitdem drückt er sich vor Sabines Kinderwunsch. Vor dem Urlaub steht es mit seiner Ehe nicht zum Besten. (Hier schließt sich inhaltlich der Prolog an.)
Es folgt das Kapitel „Tobias“. Der Leser verfolgt das spannungsgeladene Kofferpacken, geht mit Tobias auf die Reise und begleitet ihn auf der ständigen Vatersuche bis zu einem nächtlichen Strand, den Tobias panisch verlassen muss, um Hilfe zu holen.
Das letzte Kapitel „Söhne“ besteht aus Szenen, die sich abwechselnd den jeweiligen Hauptfiguren widmen und das Schweigen schließlich teilweise auflösen.
Der Epilog spielt wie der Prolog an einem Bremer Denkmal. Frieder und sein Vater sehen sich das erste Mal nach der Kretareise. Tobias taucht auf, läuft allerdings überstürzt davon. Die Frage nach möglichen Veränderungen und das Ende bleiben offen, jedoch mit einem Hoffnungsschimmer.

Der Roman lebt von der Nähe zu den drei Protagonisten bis in ihre Gedanken hinein, um dann wieder knapp und realistisch zu zeigen, wie sie ihr Schweigen leben und es in Dialogen und Handlungen schützen.

Der zeitliche Umfang von fast 70 Jahren bedurfte viel Recherche in diversen Universitätsbibliotheken, in Hamburg und Bremen und im Internet. Außerdem waren zwei Reisen nach Kreta nötig, um Authentizität zu schaffen.

Viele Menschen teilen ähnliche Erfahrungen, und das ganz im Verborgenen. Schon deshalb kann das Lesepublikum sehr vielfältig sein: von Menschen mit Interesse an den psychologischen, politischen und familiären Auseinandersetzungen bis hin zu Lesern, die selbst schweigen.

Samstag, 10. November 2007

Prolog

Sein Atem rennt nicht nur vom Fahrradfahren. Frieders schmale Wangen sind rot vom kühlen Frühling draußen.
Mit tiefer Stirnfalte steht er in Steppjacke und Ledertasche unter dem Arm neben dem klingelnden Telefon.
„Kästner?“
„Hallo Sohnemann. Ich bin’s...“
„Mutter! Seit wann rufst du mittags an?“
„Er ist nicht da.“
„Ach, deshalb. Wie geht…“
„Ich habe eine Bitte an dich“, unterbricht sie ihn, „Vater…“ Sie spricht nicht weiter. Soll er abwarten oder nachfragen?
„Vater ist nicht nach Hause gekommen. Er ist in den Wallanlagen; hat gesagt, dass er dorthin will. Bitte such’ ihn!“
Vater ist mittags selten zu Hause, doch Mutter klingt verzweifelter als sonst.
„Such ihn, bring ihn heim!“
„Sicher, sicher. Ist sonst alles in Ordnung?“, fragt Frieder.
„Bitte fahr sofort los!“, sagt sie und legt auf.

Frieder springt die Treppe hinauf und wirft die Tasche auf den leeren Schreibtisch im Arbeitszimmer, darin zwei Packen Klassenarbeiten, die er jetzt mindestens zwei Wochen nicht anschauen muss. Osterferien! Bis eben freute er sich noch auf den bereits halbgefüllten Koffer im Zimmer nebenan, in den er bis Sonntag Hosen, T-Shirts, Sonnenschutzmilch mit hohem Lichtschutzfaktor, Bücher und festes Schuhwerk packen will… wollte? Nein, so schlimm wird es nicht sein. Der Rucksack wird Handgepäck, ...würde. Nein, bestimmt nicht. Frieder nimmt sich einen Augenblick für den Koffer in dem ungenutzten Raum neben dem Schlafzimmer. Ein paar Sekunden werden schon nichts ausmachen. Mit einem Seufzer aus Hoffnung und Sorge betrachtet er Sabines neuen dunkelroten Badeanzug oben auf ihrem Stapel, tippt ihn mit den Fingerspitzen an. Als hätte er sich verbrannt, zuckt seine Hand zurück und kämmt hastig durch sein rot-blondes Haar im Nacken. Dann stürmt er die Treppe hinunter.
Im Vorgarten des Reihenhauses stoppt Frieder neben dem Rennrad im Vorgarten. Das oder das Auto? Er trägt das Fahrrad in den letzten Kellerraum, wie immer, wenn sie in Urlaub fahren. So schlimm darf es nicht sein!

Den Grünstreifen mitten in der Stadt mit dem Wassergraben und den Spazierwegen, die sich im Zickzack um die Innenstadt schlängeln, kennt Frieder von vielen Sonntagnachmittagen. Mit platt gekämmtem Schopf und quälenden Schuhen musste er seinem Vater zuhören, der immer vor ihm und Mutter herlief:
„Dies ist die erste Verteidigungsanlage, aus der man einen englischen Landschaftsgarten gemacht hat, und das auf Beschluss des Senats. Da gab es noch Hoffnung.“
Heute hat Frieder noch Hoffnung. Er hat sogar einen Parkplatz direkt neben den weißgekalkten Villen gefunden, schaut jedoch nicht wie sonst hin, als sich der Golf auf Knopfdruck schließt. Zwischen den hohen Laubbäumen hindurch läuft er über die Brücke mit den offenen Toren zwischen gemauerten Pfählen, die „gleich nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde“, wie der Vater wieder und wieder betonte. Mutter lächelte dazu; Frieder starrte auf seine glänzenden Schuhspitzen, als müssten sie beim nächsten Schritt aufplatzen.
Jetzt schiebt er seine Brille die Nase hinauf und wirft seinen Blick abwechselnd auf diesen und den gegenüberliegenden Weg, der sich immer in Sichtweite des Ufers durch Rasenflächen und Gebüsch windet. Dazwischen steht die undurchsichtige Brühe des Wallgrabens. Zwischen den Ästen der leeren Bäume murrt der nachmittägliche Stadtverkehr. In den Geruch von nassem Gras mischen sich Abgasfäden. In einer schattigen Nische entdeckt Frieder gefrorene Blattränder an einem Busch. Hier möchte er seinen Urlaub nicht verbringen. Er kneift seine Lippen zusammen und läuft schneller, als ob so er dem Mittelmeer mit jedem Schritt näher käme.
Auf einer Bank am Wasser versteckt sich ein alter Mann mit Handschuhen hinter einem Buch. So möchte Frieder sich den Vater vorstellen. Er versucht sich zu erinnern, wann er das letzte Mal mit ihm hier war – keine Antwort. Sicher wollte ich schon damals jedes Mal vergessen.
Vor der Bank schwimmen Enten durcheinander. Früher durfte Frieder sie an diesem Platz füttern. Heute verfolgen sie ihn wieder, bis ihn seine strammen Schritte weg vom Wasser auf die Rasenfläche vor das alte Polizeigebäude führen. An dieser Stelle sagte der Vater immer: „Damals hatten sich die Alliierten darin breit gemacht. Genützt hat es auch nichts.“ Danach lachte er stets allein und bitter vor sich hin. Frieder stoppt mitten auf dem Weg und fragt sich zum ersten Mal: Was hätte es nützen sollen? - Wieder keine Antwort.
Wo ist er bloß? Umgekippt? Kann nicht weiter? Oder vielleicht hat er sich versteckt? Frieder dreht sich noch einmal um. Nichts.
Er erreicht eine Straße. Die Ampel ist ihm heute zu weit. Auf halber Strecke muss er Autos und eine Straßenbahn vorbeifahren lassen. Ein Fahrer streckt ihm seine Faust aus dem Fenster. An der Kunsthalle vorbei führt ihn der Weg wieder hinab zwischen die Grasflächen, weg vom Straßenkrach. Dort unten liegt ein Café, aber Frieder war noch nie dort, obwohl er gern seinen Milchkaffee draußen am Wasser trinkt; Sabine mag lieber Espresso. Wie früher die Eltern zieht es ihn hinauf zur Anhöhe, auf der ein über zwei Meter hohes Rund aus dunkelrotem Backstein steht. Ein Riss zieht sich durch den Mörtel, aber für Frieder sieht die Mauer immer unüberwindbar aus. Bei jedem Spaziergang trieb der Vater sie zu dem Platz davor hinauf. Oben angekommen setzten sich die Eltern immer auf eine der Bänke mit Blick auf den Fluss. Der kleine Frieder durfte den Hügel hinauf- und hinunterlaufen. Wage erinnert er sich an Versteckspiele zwischen den Bäumen nur mit Mutter, die irgendwann schnaufend und noch mehr humpelnd als sonst aufgeben musste. Währenddessen stierte der Vater auf den Fluss. In den Steinbogen durfte Frieder nie hineingehen. Das väterliche Verbot hörte er so lange, bis er sich den Spaziergängen entziehen konnte.
Vor einigen Jahren las er von dem Backsteinrund als einem Kriegerdenkmal, aber betreten hat er es trotzdem nie. Heute setzt Frieder sehr viel langsamer als früher einen Fuß vor den anderen. Hier vielleicht, wahrscheinlich, bestimmt? Ein Motorrad kreischt die Uferstraße entlang. Frieders Blick überwindet die niedrige Mauer, die den Platz vom Park abgrenzt. Dort erkennt er die übergroße Steinskulptur einer mageren Mutter mit ebensolchen Kindern wieder. Sie schauen in das Denkmal hinein. Der Vater setzte sich am liebsten auf die Bank, die möglichst weit von dieser Mutter entfernt stand. Noch ein paar Schritte und er erreicht den Mauerdurchgang. Da entdeckt er eine Gruppe von Männern, die eine Flasche von Mund zu Mund gehen lassen. Frieder zieht seinen Blick weiter - wie immer, wenn er solche Männer mit ausgezehrten Kleidungsstücken und rot geäderten Wangen sieht, aber bevor er den Platz überqueren kann, erblickt er den Vater in ihrer Mitte. Das weiße Haar steht wirr in alle Richtungen. Die weiße Hand greift zur Flasche, verfehlt sie. Die Männer lachen gurgelnd, zwei husten. Dann reichen sie dem dünnen Alten die Flasche. Der Vater schüttelt nur den Kopf, grinst, trinkt. Das kann er Mutter nicht… Nicht so grinsen, nicht so trinken.
Der Kehlkopf wandert auf und ab. Dieser faltige Hals kennt hochprozentigen Alkohol, dämmert es dem Sohn. Er bleibt an diesem Anblick hängen, als sähe er seinen Vater heute das erste Mal – nach 44 Jahren. Nie wieder wegen ihm ein schlechtes Gewissen. Nie war er dem Vater so nah und fern wie jetzt.

Frieder taumelt ein paar Schritte rückwärts. Er tastet nach einem der kräftigen Bäumstämme und zieht sich dahinter. Der Vater trägt den hellen Mantel. Frieder entdeckt dreckige Streifen, auch auf der Hose. Die Flasche weitergegeben wischt er sich mit dem Ärmel über den Mund und versucht aufzustehen. Er muss sich an der Mauer hochziehen, schwankt, als er etwas in seinen Taschen sucht.
„Paul, hol noch eine!“, ruft er und gräbt in dem braunen Portemonnaie herum, das Frieder ihm zum letzten Geburtstag schenkte. Der Vater stolpert ein paar Schritte zum Metallzaun, der das Denkmal vom Platz trennt, fängt sich wieder und stolpert zurück zu den Männern. Dort bekommt er einen Geldschein zu fassen. Diesen reicht er Paul, einem breitem Mann mit blondgrauem Haar in einem farblosen Pullover. Ein zweiter Schein flattert zu Boden. Paul gibt einem Kumpanen Zeichen und steht auf. Eine Hand greift in den Sand, lässt den Schein verschwinden. Frieder drückt seine Handfläche in die grobe Rinde des Baumstammes, bis es schmerzt. Grün rieselt es zwischen die Wurzeln. Der Vater war die ganze Nacht nicht zu Hause, der Rektor a.D. von über 80. Mutter war allein. Er soff. Schluss! Aus! Frieder tritt aus seinem Versteck.
„Herr Kästner?“
Ein kleiner blonder Junge mit rotem Rucksack steht hinter ihm – einer seiner Schüler.
„Oh ... du“, Frieder stellt sich vor ihn, will die Männer verdecken. Der Name fällt ihm nicht ein. Es fliegen ständig so viele durch seine Tage, viele gleiche, viele ähnliche. Thomas… Tho…
„Wo kommst du denn her?“
„Englischnachhilfe! Vokabeln, die man beim Arzt brauchen soll – broken arm, headache, be injured, my leg hurts und so was. Wann braucht man das?“, fragt der Junge und stöhnt laut.
Frieder will zurück hinter den Baum. Es muss so aussehen, als ob ich mich nur anlehnen will. Tho …Thorben… Tobias. Ein Blick über die Schulter; die Trinker lassen sich nicht stören.
Tobias grinst, schleicht geduckt auf den Platz zu. Sein Rucksack rutscht hin und her. Dann reckt er seinen Hals.
„Da sitzen die Penner; die trinken nur!“, ruft Tobias gerade, als Autos und Motorräder leise vor den Ampeln brummen. Die Männer müssen ihn gehört haben. Frieder greift sich in den heißen Nacken, versucht seine Brille die Nase hinaufzuschieben. Dabei sitzt sie gut. Er ahnt, wie Paul den Platz absucht. Frieder hofft hinter dem Baum unsichtbar zu sein. Der Junge stört, Paul stört, alle stören, der Vater ist gestört. Bisher trank er nie. Morgens geht er immer in ein Café und in die Bibliothek, oder? Er muss krank sein. Schon immer? Der Junge muss weg.
„Fahrt ihr nicht in die Ferien?“, fragt Frieder so leise, dass Tobias seine Antwort flüstert:
„Montag fliegen wir - meine Mutter, mein großer Bruder“, sein Blick fällt hinunter auf den Weg, „und mein Vater.“
„Sicher musst du packen“, sagt Frieder, schaut dabei über den Jungen hinweg. Die Autos fahren wieder an. Ein kaputter Auspuff dröhnt. Frieder hörte in der Schule, dass Tobias’ Vater die Familie vor einem Jahr verlassen habe. Die Mutter war deshalb extra in der Schule.
Der Junge macht zwei Schritte auf Frieder zu. Dabei betrachtet er ihn ernst. Er flüstert immer noch:
„Verstecken Sie sich hier?“
Frieder verlässt seinen Baum, nähert sich dem Weg. Wenn er nur ginge.
„Ich wollte grade nach Hause“, sagt er in mittlerer Lautstärke, bleibt jedoch stehen.
Tobias springt an ihm vorbei, zeigt auf die Männer.
„Kennen Sie die?“
„Ich muss auch packen“, sagt Frieder und steckt die Hände in die Jackentaschen. Nun geh schon! Seine Finger finden seinen Schlüsselbund, zählen nach: Fahrrad, Garage, Auto, 1, 2, 3, Schule, Haustür. Schüler sind immer zur falschen Zeit am falschen Ort. Bloß nicht im gleichen Stadtteil wohnen. Frieder fällt ein Kollege ein: ‚Keine Gemeinsamkeit zeigen, sonst wird man sie nie los.’ Dafür erntet er zaghaftes, aber dennoch zustimmende Nicken. Frieder findet ihn herzlos.
„Müssen Sie auch in diese Richtung?“ Tobias zeigt über den Platz hinweg.
„Mein Auto steht woanders.“
Verschwinde endlich. Bitte!
„Schöne Ferien!“, verabschiedet sich Tobias und hebt die Hand. Frieder hört ihn über den Platz hüpfen. Er ist der kleinste seiner Klasse. Die trinkenden Männer schauen ihm nach.
,Dir auch’, hätte Frieder den Jungen gern nachgerufen, aber er soll auf keinen Fall wiederkommen.
„Danke“, sagt Frieder leise zum braunen Boden. Der Rasen unter den Bäumen ist dünn. Nie weiß er mit Schülern umzugehen, wenn er per Zufall einen oder mehrere trifft. Sind sie nur nett, weil sie bei ihm punkten wollen oder macht sie sich über ihn lustig? Deshalb schaut Frieder immer weg. Siebtklässler, wie Tobias, sind entweder neugierig und schauen noch ohne Zweifel zu einem auf oder sie wollen schneller weglaufen, als sie gekommen sind. Frieder möchte niemanden in Verlegenheit bringen, auch nicht sich selbst.
Nach einigen Minuten anfahrender und anhaltender Autos glaubt er endgültig, Tobias für 3 Wochen nicht mehr zu sehen. Er fasst sich wieder in den Nacken, wischt den Schweiß am Hosenbein ab und beobachtet weiter die Männer. Der Vater wischt sich wieder seinen Mund ab, diesmal am anderen Ärmel. Zurück bleibt ein dunkler Fleck. Frieder riecht eine Schnapsfahne, süßlich und schwer. Seine Schuhe knirschen das letzte Stück zum Denkmal hinauf.
„Frieder, mein Junge!“, schreit der Vater ihm entgegen. Er grinst, wie er sonst nie grinst und lässt die fast leere Flasche fallen. Paul fängt sie auf. Vorsichtig nähert sich Frieder, stellt sich steif neben den sitzenden Vater stehen. Der Mantel ist nicht nur voller Schmutz und Falten, sondern viel zu weit geworden. Frieder sieht in die Runde der verschwommenen Augenpaare: müde, aufgekratzt, selig. Schweiß- und Uringestank ziehen in seine Nase. Ihn ekelt.
„Mutter wartet zu Hause“, sagt Frieder leise, beugt sich zum Vater hinunter, als gäbe es eine Chance, dass nur der ihn hören könnte. Der alte Mann blinzelt ihn an. Ob er mich versteht? Plötzlich fegen seine schmutzigen Ärmel durch die Luft.
„Die haut ab! … Noch bevor Vatern tot ist!“, schreit er mit hoher Stimme. Dann fallen die Ärmel wieder herunter zwischen die Beine. Frieder geht in die Knie vor dem zusammengefallenen Vater.
Hat Mutter ihn jemals so gesehen? Immer war sie da und hat alles in Ordnung gehalten … soweit er es zuließ.
„Wir machen uns Sorgen“, sagt Frieder.
Der Vater leuchtet den größten Mann der Runde an.
„Paul, darf ich dir meinen Sohn vorstellen?“
Paul streckt Frieder seine Pranke entgegen. Zögerlich nimmt der sie gut erzogen an. Feuchte Schwielen reiben sich an seinen weichen Fingern. Frieder steht lieber wieder auf.
„Er ist in meine Fußstapfen getreten“, erklärt der Vater den Männern. Die nicken. Frieder erwartet nun die übliche Arie über sein Weigern, die Karriereleiter hinaufzustreben, so wie der Vater es selbst vor über 50 Jahren in kürzester Zeit zum Schuldirektor gebracht hat. Muss das jetzt sein?
„Heutzutage tut das kaum noch ein Sohn - ich bin stolz auf ihn“, sagt der Vater.
Stolz? Auf mich? Frieder starrt hinunter auf die Kopfhaut des Vaters. Die Penner tauschen stumme Blicke. Paul gibt die Flasche weiter.
„Würdest du nicht auch froh sein.“ spricht der Vater weiter und knufft Paul in die Seite, „wenn dein Sohn so weit ...“ Er legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Entschuldige.“
Paul rutscht angewidert von ihm weg.
„Was willst du Jammerlappen von mir? Heulst mir die ganze Nacht die Hucke voll und nun holt dich dein feiner Sohn hier ab. Geh nach Haus zu Mama!“
Er nimmt einen Schluck und tut so, als wollte er die Flasche dem Vater reichen. Er zieht sie zurück und drückt sie einem anderen in die Hand. Die Männer grölen; einige müssen keuchen. Der Vater versucht sich Bein für Bein hoch zu drücken, doch als seine Hände nach dem Gleichgewicht suchen, fällt er Frieder entgegen. Noch nie hatte er ihn im Arm. Wie leicht er ist. Die Männer hauen sich vor Lachen auf die Schenkel.
Mein Junge“, ruft der Vater und zieht sich an seinem Sohn hoch, „die Kollegen verstehen das nicht. Nur Hedi!“
Seine Knie geben wieder nach. Frieder umschlingt den mageren Brustkorb. Der alte Mann schluchzt in seine Schulter:
„Meine kleine Hedi … die ist immer für mich da.“
Solche Worte hat Frieder noch nie von ihm gehört. Ob er ihr das je gesagt hat? Schritt für Schritt zieht er den Vater weg von den Männern, weg vom Denkmal, hinaus aus dem Park.
„Jeder sollte in Frieden leben dürfen“, sind die letzten wachen Worte des Vaters, als er schon von Frieder angeschnallt auf der Rückbank sitzt. Dann nickt er ein. Sein Schnapsatem füllt das Auto mit scharfem Anisaroma. Ob er in der Öffentlichkeit solche Aussagen von sich gegeben hat? Zu Hause wäre es unmöglich gewesen.

In der Holzpforte, dem einzigen Durchgang in der mannshohen Hecke, wartet Mutter in ihrem Anorak, die Kapuze auf den weißen Dauerwellenlocken. Sie humpelt dem Auto entgegen. Sie hat viel Gewicht zu tragen. Der Vater erwacht. Sofort öffnet er die Tür, doch der Gurt hält ihn gefangen. Ungeduldig reißt er am Verschluss und schafft es, ihn zu öffnen. Beim Aussteigen hält er sich an der Autotür fest.
„Manfred!“, ruft Mutter.
„Schon gut“, sagt er, hebt die Hände.
Frieder reicht ihm seinen Arm, doch er stößt sich vom Auto ab, schwingt sich geradewegs an ihm vorbei durch die Pforte zum Haus. Seine Schritte sind unsicher, aber man hört immer wieder seine Absätze auf den Steinplatten. Das Treppengeländer dröhnt, aber die Schritte hören nicht auf, werden leiser. Mutter und Sohn ergreifen die Hände des anderen, drücken sie und atmen auf. Frieder erwartet ihren leidenden Blick, aber stattdessen schaut sie auf ihren Bauch. Trotzdem möchte er ihr Gesicht sehen. Sie versucht sich wegzudrehen. Dennoch entdeckt er einen bläulich Rand unter einem Auge. Auch das noch! Alkohol und Schläge?
„Soll ich einen Arzt rufen?“, bietet Frieder an und fragt sich, für wen dieser Arzt sei.
Er will sich von Mutters Händen lösen, aber sie hält ihn fest.
„Er war doch nur ein paar Stunden unterwegs“, sagt sie.
Sie schaut auf die vier Hände. Ihre sind klein und fleischig, seine schlank, lang, mit roten Härchen. Warum lügt sie mich an?
„Wir fliegen morgen besser nicht“, sagt Frieder und drückt ihre Hände noch einmal.
„Ihr müsst fliegen“, sagt Mutter und presst dagegen, „Ihr ward noch nie so weit weg. Bine wäre so enttäuscht… du sicher auch.“
Frieder schweigt. Alles wegen dem Vater! Schlägt er öfter zu? Trinkt er öfter?
„Was hast du am Auge, Mutter?“
„Beim Saubermachen, an seinem Schreibtisch“, sagt sie leise auf die vielen Finger hinab. Dann atmet sie tief ein. „Du weißt doch, keiner darf an seinen Schreibtisch ohne zu fragen.“
Frieder reißt sich los.
„Deshalb ein blaues Auge?“
In diesem Moment dröhnt das Treppengeländer wieder. Der Vater immer noch im dreckigen Mantel hangelt sich die Treppe hinunter, im Arm eine blaue Pappmappe. Mutter und Frieder lassen sich los. Der Schnapsdunst kommt zurück:
„Hast du darin herumgeschnüffelt, Hedi?“
Mutter schaut wieder auf ihren Bauch. Frieder will etwas tun. Das wollte er immer. Es wird Zeit. Es ist schon lange Zeit. Aber der Mann hat bis morgen sowieso alles vergessen; also später… morgen.
Steif und zusammengerissen marschiert der Vater auf Frieder zu. Fast ist er schon wieder der Mann, den er früher fürchtete und später mied: ungeduldig, unerbittlich, unantastbar.
Er presst Frieder die Mappe gegen die Brust. Darin knistert es.
„Nimm sie; lies sie; schmeiß sie weg!“, spuckt der Mann ihm mit süßem Dunst ins Gesicht, drängt sich dabei an ihn. Der lehnt sich so weit zurück wie möglich. Gemeinsam taumeln sie einige Schritte rückwärts.
Erschöpft stößt der Vater sich von der Brust des Sohnes ab, hält sich kurz an der Pforte fest und stolpert ins Haus zurück.
Frieder ist wieder Sohn; er ginge jetzt gern noch einmal ohne Abendbrot ins Bett, wenn sich damit etwas erreichen ließe. Aber das hier ist anders und neu.
„Wir müssen den Arzt anrufen!“, sagt Frieder heiser, „Dein Auge, die ganze Nacht.“
Die Mappe rutscht an seiner Jacke herunter. Mutter und er betrachten den Pappdeckel auf den feuchten Gehwegplatten. Das Aufschriftenfeld ist leer.
Neu und anders. Anders muss es werden. Anders.
Frieder hustet sich den Hals frei.
„Ich kann sie in die Mülltonne werfen“, bietet er an und hebt die Mappe mit zwei Fingern auf. Zwei Gummibänder an den Ecken halten sie verschlossen. Mutter seufzt. Sie greift nach seinem Arm, zieht ihn zu sich herunter. Die Kapuze rutscht ihr vom Kopf. Frieder riecht ihr Kölnisch Wasser.
„Schlaf eine Nacht drüber“, sagt sie, „vielleicht nimmst du sie mit in den Urlaub“. Sie versucht sich zu ihm hinaufzurecken, stützt sich auf seinen Arm. Er spannt helfend seine Muskeln, beugt sich tief zu ihr hinab, damit sie ihn auf die Wange küssen kann.
Im Haus poltert es.

Mittwoch, 7. November 2007

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